Vorschlag für das Unwort des Jahres 2011

Ich kann das Wort „Wutbürger“ nicht mehr hören. Ja, das Wort wurde zum Wort des Jahres 2010 gewählt. Ich halte es – wie so manches andere – für eine eher ungeschickte Auswahl.

Diesen Blogeintrag witme ich der Lady, die Anfang dieser Woche, morgens, zwischen Mannheim und Augsburg, im Gang vor der geschlossenen Glastür meines Abteils des ICE, unheimlich genervt hat (okay, und diese Einleitung widme ich dem Lied „Meise vorm Fenster“ des United Jazz & Rock Ensembles).

Ich stelle mir ernsthaft die Frage, ob neben 7 AKWs auch das Hirn dieser bekennenden Wutbürgerin, Umweltaktivistin und Leserin der Cosmopolitan (sagten diverse Sticker, Anstecker etc. auf ihrer Tasche) abgeschaltet wurde – zumindest bis auf eine Art Notkühlung zur Aufrechterhaltung der Lebenserhaltung.

Vince Ebert schreibt in der aktuellen „absatzwirtschaft“, Energiegewinnung sei eine „Wahl zwischen Pest und Cholera. Die Deutschen fordern dennoch die Alternative.“ Genau so kam ich mir eben auch vor. Etwa in Höhe Mannheim erläutert die Dame einem wissbegierigen Pendant am anderen Ende der Handy-Verbindung, wie toll das Bahnfahren doch sei, welche Vorzüge die Neubaustrecke Mannheim-Stuttgart habe (geht so schnell), und wie wichtig der Weiterbau der Neubaustrecke nach Ulm sei. Sichtlich eine bekennende Beführworterin von Stuttgart 21, mit Hang zum permanenten Telefonieren. Schade, dass die Strecke Tunnel hat, was die Dame sichtlich nervte (was widerum mich nervte).

Ca. 20 Minuten später folgte ein Plädoyer für den Kopfbahnhof, in den wir kurz später mit gefühlten 5km einschlichen. Ob ein ICE bei diesem Tempo ein Kühlproblem bekommt? Mein Ohr bekam jedenfalls eines, und wäre ich in Japan, würde ich über das Fluten des Gangs mit Meerwasser nachdenken, um den schwäbelnden Reaktor am Handy runterzukühlen. Erhitzt folgte dem ersten Plädoyer eine Abhandlung zum Thema Hochgeschwindigkeitstrassen (die ja nur unnötig die Natur verschandeln), Pumpspeicherkraftwerke, Handymasten und ähnliche Übel.

Ich kam mir vor wie im falschen Film – oder wie im Artikel von Vince Ebert: Schnelle ICE-Verbindungen – aber auf historisch wertvollen Bahntrassen. Bei Tempo 250 in klarer Qualität telefonieren, aber ohne Handymasten. Vermutlich auch feinstaubfreie Innenstädte ohne Umweltplakete, Elektroautos mit 1000km Reichweite ohne Lithium-Minen in Südamerika und neue Kraftwerke, Windparks ohne Windräder, Hochspannungsleitungen ohne Stromleitungen, Solarzellen ohne Silizium, Kohlekraftwerke ohne CO2-Ausstoß etc.

Klar, viele dieser gegensätzlichen Forderungen werden zu Innovationen führen, die teilweise diese Gegensätze überbrücken werden. So legen sich ICEs mittlerweile in die Kurven, und fahren mit 130 statt 120 durch die Pfalz. Dass eine Neubaustrecke aber Tempo 250 zulassen und die zu fahrende Strecke deutlich verkürzen würde, ist auch klar. Aber die ist ja nicht vor der eigenen Haustür gewollt. Also zuckeln ich ab Saarbrücken in 2:01 nach Frankfurt mit der Bahn (155km Luftlinie), oder in 1:48 nach Paris (341km Luftlinie) – wohlgemerkt im gleichen rollenden Material.

Mir kommt es so vor, als ob vielen die Folgen ihrer Forderungen nicht bekannt, zumindest aber nicht bewusst sind. Beispiel Kernenergie, bzw. Beispiel Substitution von Kernkraftwerken durch Kohleblockheizkraftwerke. Nicht nur dass die Dinger CO2 ausstoßen (das dürfte jedem noch klar sein) und dass niemand so ein angeblich Ruß-speiendes, stinkendes Ungetüm im Vorgarten möchte (was für die Kraftwärmekopplung aber notwendig ist), die Kohle ist laut ENSAD-Datenbank der Energieträger, der am meisten Menschleben pro Jahr auf dem Gewissen hat. In chinesischen Bergwerken sind alleine 2010 ca. 20.000 Bergleute gestorben (stand so zumindest in der Welt). Auf 25 Jahre gerechnet, sind die 63-90.000 Toten von Tchenobyl (63 ist die optimistische Zahl des Betreibers, der nur die direkten Todesfälle zählt, 90.000 sind die pessimistische Schätzung von Greenpeace mit allen Späterkrankten), mit den ca. 300.000 gestorbenen Bergleuten im gleichen Zeitraum doch ein deutlicher Unterschied. Doch nein, dass ist jetzt politisch unkorrekt. Ich verrechne potentielle Umweltschäden mit riskierten Menschenleben.

Aber genau darauf läuft es hinaus, wenn man die Umweltschäden, aber auch die Toten und Verwundeten einer Nuklearkatastrophe mit den Risiken eines Gezeitenkraftwerks, einer Talsperre oder eines Offshore-Windparks vergleicht. Es geht um einen Vergleich aller Aspekte – nicht nur das „Restrisiko“. Man sollte sich auch die Frage gefallen lassen, ob die Vermeidung des Risikos eines AKW-Unfalls es wert ist, dass die Kohleförderung erhöht wird und somit mehr Bergleute ihr Leben riskieren. Und vor allem sollte man nicht nur die offensichtlichen Risiken im Nahbereich einbeziehen – sondern bitte alle Schäden einbeziehen. Ja, wenn das AKW hoch geht, ist die Gegend darum defintiv geschädigt. Wenn das Kohlkraftwerk hoch geht, ist nicht so viel dauerhaft kaputt. Dafür schädigt das Kohlekraftwerk mit sehr viel höherer Wahrscheinlichkeit die Flüsse und Umwelt rund um das Bergwerk, in dem die Kohle gefördert wird. Hinzu kommen die Ewigkeitskosten. Bei der Kernenergie sind diese noch kaum abzuschätzen – es geht um die dauerhafte Lagerung von benutzter Kernelemente bzw. deren Aufarbeitung in nutzbare Dinge (ja noch so was unangenehmes, manchmal kann man nach Jahrzehnten mit Müll wieder was anfangen. So beginnt man teilweise, Plastikmüll aus Müllhalden wieder zu extrahieren, weil man endlich in der Lage ist, ihn sinnvoll zu recyclen). Bei der Kohle können die Leute im Ruhrpott sehr genau über diese Ewigkeitskosten klagen. Grundwasserspiegel sind „verrutscht“, Pumpwerke müssen Regionen wasserfrei halten etc. Und wenn wir demnächst auch noch CO2 in unterirdische Lagerstätten pressen wollen, wird es hier auch Endlagerkosten geben.

Ich fordere daher hier, bitte das Hirn wieder einzuschalten. Bitte, sorgfältig nachdenken. Nicht nur lokale Risiken sehen, sondern einmal gobal denken und nachhaltig Handeln. Nachhaltigkeit bedeutet hier für mich, dass wir den ganzen Planeten erhalten – nicht nur ausgewählte Täler im Schwarzwald. Vielleicht ist es ja sinnvoll, Atomkraftwerke in der Wüste zu bauen, wo nur wenig passiert, falls das Restrisiko mal eintritt. Vielleicht ist es auch sinnvoll, bewusst das Risiko der Umweltverschmutzung bei der Lithiumförderung einzugehen, um mit Elektromobilität den Ölverbrauch zu reduzieren. Nur bitte: Das sollte wohl durchdacht und gut kommuniziert werden. Solange wir erneuerbare Energie fordern, und keine Pumpspeicherwerke wollen, sind wir noch nicht ganz so weit.

Vielleicht sollte ich der Dame vorschlagen, sich ein 60-Tonnen-Schwungrad in den Keller als dezentralen Energiespeicher für ihre Solarzellen zuzulegen. Macht bestimmt was her, wenn da die Lager quitschen oder das Ding ne Unwucht hat und das gesamte Häusle zum Einbruch bringt. Oder ne Brennstoffzelle samt Wasserstofftank. Wasserstoff kann richtig gut explodieren, wie man an den Dächern eines gewissen Reaktors sehen kann. Vermutlich beführwortet sie dann aber ganz schnell das Pumpspeicherkraftwerk.

Ein Kommentar

  1. Aus Kleine Zeitung,23.Juni 2011, Seite 2 :
    „Schöngerechnet“ und „Wackelkandidaten“

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